AUS DEM INSTITUT FÜR STRATEGISCHES MANAGEMENT
Natur als Ratgeberin für nachhaltiges Wirtschaften
Silvan Oberholzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strategisches Management der HWZ, untersucht in seiner Forschung, wie die Natur im Stakeholder Engagement eingebunden werden kann, um dadurch nebst ökonomischem einen ökologischen und sozialen Mehrwert zu schaffen. Anhand von Einsichten in indigene Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta, Kolumbien, zeigt er, inwiefern die Berücksichtigung der Natur als Stakeholder eine zentrale Rolle für eine ganzheitlich nachhaltige Wertschöpfung spielt.
Natur als Stakeholder: Mehr als eine Partnerin
Silvan, du arbeitest zurzeit an deiner Dissertation zum Thema des direkten Einbezugs der Natur in Stakeholder Engagement im Unternehmenskontext. Hierzu hast du unter anderem mit Vertreter:innen indigener Unternehmen in Kolumbien Gespräche geführt. Kannst du uns einen tieferen Einblick in dieses Forschungsprojekt geben?
In meiner Dissertation in Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen untersuche ich, wie Unternehmen die Natur in Stakeholder-Beziehungen berücksichtigen. Dies kann entweder auf indirekte Weise, durch die Berücksichtigung der Natur als Unternehmenskontext, oder direkt geschehen. Berücksichtigen Unternehmen die Natur auf direkte Weise, dann geschieht dies durch organisationsinterne Vertreter:innen, die sowohl die Wertschöpfung des eigenen Unternehmens als auch die Bedürfnisse und Interessen der Natur berücksichtigen. Wie dies genau vonstattengeht, ist momentan noch wenig empirisch erforscht, aber von grosser Relevanz für nachhaltiges Wirtschaften.
Seit letztem Sommer untersuche ich, wie indigene Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta, einer der Orte mit der höchsten Biodiversität der Welt im Nordosten Kolumbiens, durch die Inklusion von Natur als Ganzes und Teilen davon als Stakeholder regenerativen Wert schaffen. Diese Art von Wertschöpfung zeichnet sich dadurch aus, dass Unternehmen möglichst im Einklang mit der Natur wirtschaften, wobei die entstehenden positiven ökologischen und sozialen mögliche negative Auswirkungen übersteigen. Mit meiner Forschung möchte ich aufzeigen, welches Mindset Stakeholder Engagement fördert, das die Natur direkt miteinbezieht, und welche Interaktionsformen von Unternehmen mit natürlichen Stakeholdern zu regenerativem Wirtschaften beitragen.
Du hast im Rahmen deines Forschungsprojekts verschiedene Interviews mit Unternehmen aus Kolumbien durchgeführt, die von indigenen Personen geführt und gegründet sind. Was hat dich dazu motiviert, diese Unternehmen im Nordosten Kolumbiens zu untersuchen?
In der Sierra Nevada de Santa Marta leben vier indigene Völker: die Kogi, Arhuaco, Wiwa und Kankuamo. Diese vier Völker stammen vom hoch entwickelten Tairona Volk ab, welches Jahrtausende und mit einer Bevölkerung von bis zu einer Million Personen bis zur spanischen Kolonisierung das Gebiet der Sierra Nevada de Santa Marta bewohnte. Die Weltanschauung dieser Völker basiert auf einem intrinsisch motivierten Respekt gegenüber der Natur und einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Diese fliessen auch in ihr wirtschaftliches Handeln ein. In meiner Forschung habe ich diese vier indigenen Völker berücksichtigt. Sie wirtschaften schon seit Jahrtausenden im Einklang mit der Natur und sind demzufolge regenerativ. Neu sehen sie sich aufgrund sozio-ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend gezwungen, im Sinne westlicher Organisationen monetären ökonomischen Wert zu generieren. Dadurch eignen sich diese Unternehmen, Stakeholder Engagement aus einer nicht-westlichen Perspektive zu beleuchten, welche die Natur ins Zentrum stellt.
Zudem habe ich eine familiäre Verbindung zu Kolumbien, ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre. Auch durch frühere Forschungsarbeit in Kolumbien bin ich mit dem grösseren sozio-ökonomischen Kontext vertraut. Die Sierra Nevada de Santa Marta besuchte ich ebenfalls schon vor dem Projekt mehrmals. Neu war für mich jedoch der Einbezug indigener Unternehmensvertreter:innen, wobei ich als nicht-indigene Person zusätzliche ethische Anforderungen und kontext-sensitive Vorgehensweisen zu berücksichtigen hatte.
Wie definierst du in deinem Forschungsprojekt den Begriff «Natur als Stakeholder»?
Wie ich in meiner Forschung feststellte, verstehen die untersuchten indigenen Unternehmen sowohl die Natur als Ganzes als auch einzelne Teile davon als Stakeholder. Der Einbezug von Natur als ganzheitlichen Stakeholder hilft den Unternehmen, die Auswirkungen ihres Handelns auf die Umwelt auf einer systemischen Ebene zu berücksichtigen. Der Einbezug von nicht menschlichen Teilen der Natur wie Ökosystemen (bspw. Wälder, Flüsse oder Weiden) oder Spezies (bspw. Tiere oder Pflanzen) als Stakeholder erlaubt, die spezifischen Rollen und Bedürfnisse dieser Stakeholder in der Wertschöpfung zu berücksichtigen. Dadurch können auch verschiedene Interaktionsformen ausfindig gemacht und gepflegt werden, die zu einer regenerativen Wertschöpfung beitragen. Menschliche, wie auch natürliche Stakeholder können die Unternehmensaktivität direkt oder indirekt beeinflussen oder von dieser beeinflusst werden. Dadurch haben sie auch strategische Relevanz für Unternehmen.
Inwiefern geht dieses Stakeholder-Verständnis über das Konzept der Natur als eine «Partnerin» hinaus?
In meiner Forschung habe ich mich intensiv mit der von den Kogi, Arhuaco, Wiwa und Kankuamo geteilten Weltanschauung auseinandergesetzt. Die indigenen Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta binden dabei die Natur als 'Guide', also Ratgeberin, in ihre Unternehmenstätigkeit ein. Dabei wird der Natur nicht nur die Rolle einer Partnerin zugeschrieben, sondern einer Wissensträgerin, welche die regenerative Wertschöpfung informiert.
Dies bedingt wiederum, dass sich unternehmerisches Handeln an Naturzyklen und Logiken der Natur orientiert. Diese Art von Stakeholder-Verständnis der Natur fördert eine langfristige Orientierung und basiert auf der Wahrnehmung der Natur und ihrer Teile als lebendige Grundlage allen Lebens.
Weshalb ist es wichtig, sich die Praktiken indigener Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta zu Herzen zu nehmen?
Für einen nachhaltigeren Umgang mit der Natur durch Unternehmen gibt es viel zu lernen von den Jahrtausenden alten wirtschaftlichen Praktiken der indigenen Völker der Sierra Nevada de Santa Marta. Um unsere grossen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, ist es gleichzeitig wichtig, dass wir über unseren eigenen Tellerrand herausschauen und Ansätze identifizieren, die auch in nicht-westlichen Unternehmenskontexten anwendbar sind.
Wichtig ist dabei jedoch, die jeweiligen nicht-westlichen Stimmen korrekt zu repräsentieren. Dabei spielen Offenheit und Respekt für neue Weltanschauungen und Praktiken eine zentrale Rolle. Mir ist es beispielsweise auch ein Anliegen, dass meine Erkenntnisse den indigenen Unternehmen, welche an meinem Forschungsprojekt teilnahmen, nützlich sind.
Indigene Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta zeigen auf, wie man in Unternehmenstätigkeiten durch das Verständnis der Natur und Teilen davon als integrale Stakeholder eine nachhaltige Wertschöpfung erreichen kann. Diese Wertschöpfung dient der Natur und dem Menschen, welcher integraler Bestandteil der Natur ist. Die Denkweise in natürlichen Stakeholder-Beziehungen anstatt Entitäten hilft den untersuchten indigenen Unternehmen, den Einfluss von Unternehmensaktivitäten auf die Natur und umgekehrt besser zu verstehen. Die Unternehmen zeigen, dass die Teilhabe an einem Stakeholder-Netzwerk bestehend aus (nicht-)menschlichen Teilen der Natur mit der Verantwortung einhergeht, sich um die Gesundheit der darin enthaltenen Beziehungen zu kümmern.
Weshalb ist es für Unternehmen von Bedeutung, die Natur in Stakeholder Engagement einzubeziehen?
- Erstens werden dadurch natürliche Stakeholder innerhalb einer Organisation sichtbar, indem ihre «Gesichter» und «Stimmen» in die Entscheidungsfindung und das Management einbezogen werden. Dadurch wird auch das Management der Rollen, Bedürfnisse und Präferenzen dieser Stakeholder möglich und es können Synergien geschaffen werden.
- Zweitens wird durch den Einbezug natürlicher Stakeholder in der Unternehmenstätigkeit ein umfassenderes Verständnis der natürlichen Umwelt einer Organisation geschaffen. Veränderungen in der natürlichen Umwelt werden vorhersehbarer und naturbezogene Fragen können früher und effektiver angegangen werden.
- Drittens bietet diese Art von Stakeholder Engagement Einblicke, wie eine Organisation natürliche Stakeholder beeinflusst, welche zentral für deren Wertschöpfung sind, und wie diese die Organisation und weitere ihrer Stakeholder beeinflussen. Der Erwerb dieses Wissens bildet nebst der Grundlage für regenerative Wertschöpfung auch Potenzial für Wettbewerbsvorteile.
